To be or not to be: Identität ist relativ
Dieser Wahnsinn hat Methode, das wusste schon Shakespeare. Subversive Rede ist immer schon ein nützliches Mittel gewesen, um auf bestehende Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft aufmerksam zu machen. Das bewusste Überschreiten von gesellschaftlichen Normen eröffnet dabei ungeahnte Möglichkeiten der konstruktiven Störung. Shakespeares Literatur ist ein exzellenter Ausdruck sprachlicher Manipulation: Seine Sprache ist ambivalent und gleichzeitig konkret, sie entzieht sich den sozialen Normen der klaren Rede und bricht kommunikative Tabus.
Depressive Techniken zum Erhalt des Status Quo
Hamlet und Ophelia haben ein Problem. Das Liebespaar fühlt sich seiner Gesellschaft fremd, es spricht eine andere Sprache. Aber das herrschende Verständnis von Identität beschränkt sich auf konfliktscheues Konsensdenken. Vom König bis zu den opportunen Helfern Rosencrantz und Guildenstern hat die Stabilisierung der Ordnung oberste Priorität - Bildung und Moral sind dem untergeordnet. Abweichler werden deprimiert, demoralisiert und entmutigt. Wer abseits der akzeptierten Norm steht, wird durch Pathologisierung ausgeschlossen, ihm wird die Deutungshoheit über die eigene Identität aberkannt. Aber Hamlet und Ophelia entziehen sich und machen der herrschenden Elite mit den Mitteln der ambivalenten Rede des Wahnsinns ihr Monopol auf Wahrheit streitig.
Wenn der Patient kein Krankheitsbewusstsein hat - wer entscheidet, ob er krank ist? Soziale Normen bestimmen, wo die Grenze zwischen normal und krank verläuft. Gesellschaftlich sanktioniertes Fehlverhalten markiert die Grenze des Akzeptierten und gibt gleichzeitig Aufschluss über die Problematiken der allgemein vorgelebten Identitätskonstruktion. Das Spannungsverhältnis von Gesundheit und Krankheit ist immer Ausdruck gesellschaftlicher Macht - dies hat Michel Foucault schon 1954 in seiner Schrift "Psychologie und Geisteskrankheit" anhand des Wahnsinns beschrieben, in der er Klinikbefunde zu Geistesstörungen in einen kulturwissenschaftlichen Kontext stellt.
Wenn es einen Leidensdruck gibt, verschieben sich die Wahrnehmungen gesellschaftlicher Zustände. Alain Ehrenberg erläutert in "Das erschöpfte Selbst: Depression und Gesellschaft in der Gegenwart" den westlichen Individualismus als ein nicht einlösbares Versprechen der unbegrenzten Möglichkeiten, die das Subjekt in einen ständigen Zwang nach Selbstverwirklichung treibt. Statt Verantwortung gegenüber dem eigenen körperlichen und seelischen Gleichgewicht wird Verantwortung als perfekte Selbstoptimierung missverstanden. Das Selbt ist nicht mehr in der Lage, seine eigenen Konflikte auszuhalten und rennt im Glauben an optimales Lebensglück unerfüllbaren Lebenskonzepten der Werbeindustrie hinterher.
"I can resist everything except temptation" (Oscar Wilde)
Hamlet zweifelt an der Welt, seit der verstorbene Geist seines Vaters ihm das Ausmaß der Korruption im Staate gezeigt hat. Er ist zerissen zwischen den gewissenlosen, ungesühnten Verbrechen der bestehenden Herrschaft und der zukünftigen, bedrückenden Verantwortung der Machtübernahme als König. Er fühlt sich schwach und handlungsunfähig. Von Ophelia missverstanden, die sich in Angst vor seinen überwältigenden Gefühlen an die alten Ordnung klammert, zieht er sich zurück und empfiehlt ihr wütend ebenfalls den Rückzug ins Kloster: "Get thee to a nunnery!" Von nun an spielt Hamlet den Narren, um die Gesellschaft mit ihrer Amoral zu konfrontieren: seine leidenschaftliche, hinterlistige Sprache stellt sich jenseits der etablierten Wahrnehmung von Gesundheit und benutzt den Wahnsinn als Methode der Provokation.
Identität ist keine Substanz, sondern eine kommunikative Funktion. Die Soziologie nach George Herbert Mead geht davon aus, dass sich Identität erst durch personelle Interaktion mit gesellschaftliche Normen ausbildet, aber auch sie setzt als Primärgrundlage das psychologische Identitätsverständnis: das Ich als materieller Identitätskern, dass sich mit etwas wie Werten, Normen, Rollen, Vorbildern identifiziert und so transformiert. Das Ich ist die a priori gedachte Anlage zur reflexiven Verinnerlichung der Erfahrung, die ein logisches Weltbild konstruiert (A = A).
In der Mathematik hingegen ist eine Identität eine Verbindungsgleichung, die erst durch den identischen Wert der Summe bestimmt wird (A = B). Der Wert an sich entsteht aus der passenden Vereinung von ungleichen Parametern - in der regelhaften Verbindung von komplexen Möglichkeiten entsteht eine Identität. Identität ist keine reduzierbare Komponente, sondern eine durch arithmetische Einheit beschränkte Homogenität. Überträgt man dieses Konzept auf die Soziologie, entsteht personale Identität nicht durch Anpassung von Individuen an bestehende Bedingungen, sondern durch die Feststellung einer gemeinsamen Schnittmenge, die sich durch die spezifische Konstellation von Individuen zueinander erst ergibt.
"Mama, my vse soshli s uma" (Victor Zoi)
Ophelia, gekränkt und zurückgewiesen, findet in ihrer Paria-Position zu einer klaren Sprache: sie schildert sexuelle Eindeutigkeiten, Enttäuschung und Verrat - ob sie über einen Missbrauch spricht oder über Intimitäten mit Hamlet, ist unklar. Ihre Sprache ist schizophren - aus σχίζειν s’chizein „abspalten“ und φρήν phrēn "Seele, Gemüt" - Ausdruck einer gespaltenen Seele, die den Widerspruch zwischen ihrer gefühlten Wahrheit und der erlebten Realität aushält. Sie lenkt mit ihren magisch-dämonischen Reimen nicht nur Aufmerksamkeit auf sich, sondern öffnet konzeptionelle Metaebenen und damit alternative Handlungsmöglichkeiten.
Identität entsteht nicht aus der logischen Anpassung an eine geordnete Umwelt, sondern wird in der zufälligen Verbindung von Ungleichem erst geschaffen. Der Mensch als „beharrliche Einheit, die in den Fluten der Veränderung ewig dieselbe bleibt“ (Schiller, Friedrich: „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“) ist mit der Psychoanalyse abgelöst worden von einer Vielzahl von interagierenden, widersprüchlichen Persönlichkeiten innerhalb einer Person. Diese Person wiederum muss mit anderen widersprüchlichen Personen in einer sich ständig verändernden, chaotischen Umwelt kommunizieren. Wie kann sie Halt finden?
Identität ist immer ein Konflikt und gleichzeitig eine Chance, die von außen herangetragen wird. Das Subjekt steht im Zentrum konkurrierender Verbindungen, die es weder überschauen noch ganz verstehen kann - seine Perspektive ist höchst beschränkt und eindimensional. Um eine Identität zu bilden, muss es zunächst handeln, um dann die Reaktion seiner Umwelt zu erfahren, die die subjektive Erwartungshaltung bestätigt oder ihr zuwiderläuft. Dabei ist es nicht, wie die Sozialpsychologie annimmt, die nachträgliche kognitive Strukturierung, die die Erfahrung des Möglichkeitsraums steuert, sondern die auf affektiver Ebene als abweichend wahrgenommene Reaktion - sie erst schafft in der Abgrenzung ein objektivierbares Verständnis der eigenen Stellung.
Tag meines Lebens! Die Sonne singt
Hamlet und Ophelias Beziehung ist schicksalhaft. Die naheliegendste Lösung, nämlich die standesgemäße Verbindung zwischen den beiden, scheitert in der Tragödie an Missverständnissen und verletzten Gefühlen. Hamlet verschreibt sich seiner Ambition und wendet sich in psychischer und physischer Gewalt gegen die Elterngeneration, gegen seinen Willen wird er Teil der korrupten Welt. Ophelia verschwindet unter ungeklärten Umständen von der Bildfläche, bevor sie Entscheidendes bewirken kann.
Dabei wäre alles so einfach gewesen - hätten Sie doch auf die Liebe und die Zeit vertraut! Tja, hinterher ist man bekanntlich immer schlauer. Wir alle leben in einem dynamischen Multiversum, in dem "Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen" herrscht (Ernst Bloch). Verschiedene Wahrheiten exisitieren gleichberechtigt nebeneinander, das Alte bringt Neues hervor, das Neue zerstört das Alte, ohne Rücksicht. Die These bringt aus sich die Antithese hervor - die Evolution ist erfinderisch! Es ist die Aufgabe des Menschen, seine Schwarmintelligenz so einzusetzen, dass es dabei keine Opfer gibt.
Mit der Transparenz unserer Entscheidungen ist das so eine Sache. Die Psychologie geht davon aus, dass uns dabei immer das Unbewusste im Weg steht. In der Mensch-Computer-Interaktion wird gerade der unbemerkte Übergang eines Systems in ein anderes als Transparenz bezeichnet. Es ist die Intuition, die dem rationalen Verständnis zuvorkommt und uns auf Wege schickt, die wir erst viel später verstehen. Aber es ist nicht einfach ein Bauchgefühl, sondern bereits die Identitätsverflechtung des Möglichkeitsraums, die uns handeln lässt. Das Chaos ist real und allgegenwärtig, der Zufall aber ist ein Mythos. Die Zukunft ist schon da.
Kreative Atmosphären - Entwurfsleistungen für Innenarchitektur und Architektur
8 JahreToller Artikel...vielen Dank!