Phantasie-eine Kraft der Seele

Gerade in Zeiten von Corona, wo viele unter uns an der Stagnation, dem Stillstand und der seelischen Beengung leiden, ist es wichtig, die Kraft der menschlichen Phantasie zu aktivieren. Womöglich sind Sie schon einmal im Traum geflogen oder ein Roman hat Sie in eine andere Wirklichkeit entführt, so dass Sie Raum und Zeit vergessen haben? Schon die Romantiker haben der Dichtung ihrer Zeit mit Phantasie und Gemüt neues Leben eingehaucht und ihrer Vorliebe für ahnungsvolle Stimmungen, Traum, Wunder und Märchen zum Ausdruck verholfen. Fantasyromane und Filme haben auch heute große Konjunktur, man denke nur an den „Herr der Ringe" oder „Harry Potter", aber auch Kultfilme wie der „Himmel über Berlin" von Wim Wenders. Auch Romane wie „Die unendliche Geschichte" oder „Momo" vom hellsichtigen Schriftsteller Michael Ende entführen uns in eine andere Welt, eine Welt der Phantasie, welche bislang ungeahnte Möglichkeiten aufzeigen oder Wege, eine verlorene tiefere Menschlichkeit zurück zu gewinnen.

Die Phantasie kann als Fähigkeit oder Vermögen beschrieben werden, mit denen sich der Mensch über die engen Grenzziehungen und Einengungen der realen Welt hinweghebt und Zugang zu einer befreiten Wirklichkeit bekommt. Phantasien, die mir geschenkt werden, sind Geschenke aus der Tiefe der Seele und deren Weisheit, welche vom rationalen Bewusstsein oft vernachlässigt wird. Gerade das Fenster kann als Symbol dienen, durch welches wir die die festgelegte Welt der Fakten verlassen und uns einer Welt der Ahnung und des Unbegreiflichen annähern. Wer schaut nicht zwischendurch mal aus dem Fenster und beginnt für einige Sekunden zu träumen…?

Kunst und Religion als Fenster zu einer anderen Welt

Auch Kunst und Religion dienen als Fenster, welche einen Ausblick gewähren und eine Welt erahnen lassen, jenseits der Begrenzungen realer Verhältnisse und rein rationaler Festlegungen.

Die Religion bietet zahlreiche Bilder an, welche die Phantasie aktivieren hilft . So phantasiert der Psalm 23 einen Ausruhplatz, zu dem der Beter mit Gottes Hilfe gebracht wird: „Der HERR ist mein Hirt, nichts wird mir fehlen. Er lässt mich lagern auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. Meine Lebenskraft bringt er zurück…" Wieder anderen hilft das Bild, dass Jesus sie begleitet und in ihrem Herzen wohnt und ihnen beisteht, ihr Leben zu bewältigen. Auch für Sterbende sind Hoffnungsphantasien in der Aufgabe des Loslassens im Sterbeprozess hilfreich; so zum Beispiel das Bild von den Engeln (vgl. Psalm 91), die mich beim Übergang begleiten oder das Bild vom Paradies, in das ich nach meinem Tod geführt werde, oder der Wohnung, die für mich von Gott schon vorbereitet ist.

Nutzlose, psychotische und angstmachende Phantasien

Natürlich gibt es auch Phantasien, die uns in nutzlosen Illusionen einlullen und Spiegelbild einer in sich gefangenen Seele sind; statt den Menschen über das kleine Ich hinaus zu führen, lassen sie ihn im eigenen Inneren versumpfen. Die guten Phantasien sind auch zu unterscheiden von Phantasien einer psychotischen Wahnwelt, die einen extremen Realitätsverlust wiederspiegeln und mit einem Verlust der Empathie für anderen Menschen und die Umwelt einhergehen. (manche Verschwörungstheoretiker scheinen  mir durchaus psychotische Züge zu haben)

Aus dem Unbewussten tauchen auch destruktive oder dunkle Phantasien auf, die mit verdrängten Gefühlen wie Angst, Neid, Eifersucht, oder einem ungelebten Aspekt des eigenen Lebens zu tun haben (oft genug projiziert auf andere, insbesondere Randgruppen); so in den „Schatten" gedrängte Phantasiebilder können im Traum auftauchen als armes, bettelndes Kind, als Gauner und Betrüger oder in bedrängende Phantasien wie sie in den Lebensbeschreibungen des heiligen Antonius vorkommen. Die wurden von den frühen Mönche Ägyptens als Attacken von Dämonen interpretiert, denen sie sich in ihrer Einsamkeit oftmals hilflos ausgeliefert fühlten. Ihre Gegenphantasie bestand darin, dass sie fest daran glaubten, dass Christus in ihren Herzen wohnt und diese Kraft immer stärker ist als die sie bedrängenden Dämonen. Der Künstler Matthias Grünewald hat diese Phantasien ausdrucksstark auf dem Isenheimer Altar in Colmar dargestellt.

Heilsame und rettende Phantasien

Zu den hilfreichen Phantasien gehören auch schöpferische Einfälle, die uns geschenkt werden, Visionen, die die bestehende, oft ungerechte Welt transformieren helfen, wie Martin Luther`s King „I `ve a dream"; eine Phantasie, die ihm die Kraft ab, gegen Unterdrückung, soziale Ungerechtigkeit in Amerika aufzustehen und gegen die Rassentrennung zu kämpfen. Und Saint-Exupéry wird folgender Satz zugeschrieben: „Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer." Natürlich müssen der Sehnsucht auch konkrete Taten folgen.

Jedenfalls ist die Phantasie eine schöpferische Kraft der Seele. Eine Kraft, mit deren Hilfe sich manche Kinderseele rettet, um in einer ängstigenden und bedrohlichen Umwelt zu überleben anstatt an ihr zugrunde zu gehen. Gute Phantasien schützen die Seele, bieten Auswege, relativieren die Wirklichkeit, drängen das Bedrohliche zurück, führen in einen Raum des geschützten Ausruhen- und Seinsdürfens („Du bist mein geliebtes Kind!"), der Geborgenheit(„Ich bin alle Tage bei Dir!) oder zu neuen sprudelnden Kraftquellen („Ich werde dich erquicken")

Aktivierung der Phantasie

Doch ich kann die Kraft meiner Phantasie auch selbst aktivieren, indem ich nach Möglichkeiten suche, welche meine eingeengten Weltsichten, die Systeme und Denkweisen, in denen ich verhaftet bin, die Vorurteile und eingefahrenen Denkmuster, in denen ich gefangen bin, öffnen. Dabei können unterschiedliche Wege hilfreich sein. !"). Manchmal muss ich mir nur die Erlaubnis geben, etwas aus einer anderen Perspektive anzuschauen, Phantasien zu erlauben statt gleich zu sagen: „Das geht eh nicht!".

Auch Phantasiereisen können sehr hilfreich sein; zum Beispiel zum Ort, wo ich als Kind gerne selbstvergessen gespielt habe (diese Phantasiereise scheint besonders für ausgebrannte und erschöpfte Menschen sehr wirksam).

Mir persönlich hilft das Lesen von Lyrik, das Malen von Bildern, das Betrachten von Kunst, aber auch manche Märchen und biblische Geschichten öffnen andere Perspektiven; nicht zuletzt ist es die Musik (wie z.B. manche Arien von Johann Sebastian Bach), die meine Seele über die Begrenzungen des kleinen Ich hinauslocken. Oder ein schöner Garten, in dem ich sitze, lässt mich etwas vom Paradies erahnen und verstehen was der Dichter Johann Wolfgang von Goethe meinte, wenn er sagte: „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis"; im Sichtbaren gilt es das Unsichtbare und Unvergängliche zu erahnen.

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